
20.02.25
Anna sitzt in ihrem Büro in der Friedrichstraße, Berlin. Eigentlich eine Stadt, die nie ruht. Doch heute fühlt sich die Energie anders an. Es ist Montag, der erste Arbeitstag nach den Bundestagswahlen und obwohl die Sonne sich heute von ihrer besten Seite zeigt, liegt eine Schwere in der Luft. Die AfD hat die Wahl gewonnen. Eine Koalition mit der CDU ist nun in greifbarer Nähe.
Gestern hat Anna den Moment mit ihren Freunden vor dem Fernseher verbracht, die Hände um ein Glas Wein geklammert, während die Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten. Erst war es eine Befürchtung, dann Gewissheit. „Das ist kein Albtraum“, dachte sie, „es ist jetzt Realität.“ Und mit dem Ausgang der Wahl, der Deutschland auf einen klar rechten Kurs setzt, hat sich ihr Leben als Kommunikationsberaterin unwiderruflich verändert.
Ein neuer Ton in der Gesellschaft
Auf dem Weg zur Arbeit bemerkt Anna es überall. Die Menschen wirken, als hielten sie den Atem an. Die Gespräche in der U-Bahn sind leiser, nervöser. Keine Smalltalks, keine lauten Telefonate oder Musik, nur ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Wie geht es weiter? Was erwartet uns? An den Wänden hängen Plakate, die noch von der Wahl stammen – aufgerissene Slogans der AfD: „Mut zur Wahrheit“ und „Deutschland zuerst“. Vorher hatte sie diese Plakate nur belächelt – wie konnte man nur so denken, hatte sie sich immer gefragt – jetzt wirken sie fast bedrohlich.
Im Büro angekommen herrscht angespannte Hektik. Die Kolleginnen und Kollegen sprechen gedämpft. Man kann es noch nicht so richtig begreifen. Was bedeutet diese neue Regierung für die Wirtschaft, die Gesellschaft und ihren Job? Niemand weiß so richtig, wie man Kund*innen, Mitarbeitende und weitere Stakeholder auf eine Zeit vorbereitet, die unberechenbar scheint und drastische globale Bewegungen weiter befeuert.
Die Verunsicherung
Schon früh am Morgen beginnt das Telefon zu klingeln. Ein multinationales Unternehmen aus der Chemiebranche meldet sich als erstes. Einer von Annas langjährigen Kunden, Weltmarktführer mit Sitz in Frankfurt. Die letzten Jahre haben die Unternehmenskommunikation und Anna mühsam damit verbracht, den Fokus der Kommunikation im Einklang mit der Unternehmensstrategie auf Nachhaltigkeit zu setzen. Doch jetzt scheint genau das ihre Achillesferse zu sein. Der Leiter der Unternehmenskommunikation ist sichtlich verunsichert. „Unsere Kunden im Ausland fragen schon, wie wir es schaffen wollen, in einem Land zu bleiben, das mit diesem Kurs neue Investitionsrisiken mit sich bringt“, sagte er, „und was wird aus den Förderungen, auf die wir angewiesen sind? Wir haben fest mit dem Ausbau von Infrastruktur für Wasserstoff und erneuerbare Energien gerechnet!“ Hier geht es nicht mehr nur darum, Brände zu löschen, die Akzeptanz und der Fortbestand ihres Standorts steht grundsätzlich in Frage.
Später am Tag meldet sich ein großes Bauunternehmen. Eigentlich hätte man meinen können, sie würden von den Lockerungen der neuen Regierung in Bezug auf Umweltauflagen und Arbeitsrechte profitieren. Doch die Sache war nicht so einfach. Sie fürchten, als Profiteure eines Systems gebrandmarkt zu werden, das nicht mit den Wertesystemen ihrer internationalen Partner*innen und Investor*innen übereinstimmt. „Wir können uns keine schlechten Schlagzeilen leisten, wir brauchen die öffentlichen Aufträge“, meint der CEO. „Aber halten wir die Füße still, wird uns das heimische Publikum als zögerlich brandmarken – und wer möchte schon für einen rechten Arbeitgeber arbeiten? Wie positionieren wir uns denn nun?“
Die vielleicht eindringlichste Unterhaltung führt Anna an dem Tag mit einem Krankenhausnetzwerk, das sie betreut. Die Geschäftsführer waren entsetzt, weil die neue Regierung bereits signalisiert hatte, Zuwanderung im Gesundheitssystem und Integrationsprojekte einzuschränken. Was sollen sie den internationalen Ärztinnen und Ärzten sagen, von denen sie abhängen? Wie steht es um ihr Pflegepersonal ohne deutsche Staatsbürgerschaft? Wie erklären sie den Patient*innen, dass sie nun noch länger auf Behandlungen warten müssen? Nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Dilemma, aus dem es keinen leichten Ausweg gibt.
Eine neue Ordnung
In Annas Pausen tut sie, was sie immer tut und am besten kann: Nachrichten lesen, Stimmungen analysieren, die Reaktionen der Welt aufsaugen. Die Schlagzeilen der letzten Wochen aus Washington waren schon nicht leicht zu verdauen. Trump, der mit seiner erneuten Präsidentschaft die USA nach vier Jahren liberaler Pause wieder Richtung Isolationismus und Nationalismus treibt, lobt den „deutschen Geist und Nationalstolz“ der neuen Regierung. In Polen und Ungarn beflügelt der deutsche Wahlausgang die nationalkonservativen Bewegungen. Es ist nicht nur Deutschland, das in die Enge getrieben wird – es ist eine ganze Weltordnung, die langsam aus den Fugen gerät.
„Wie kann das jetzt mein neuer Alltag sein?“, dachte Anna, „Das wird schwieriger als gedacht.“
Wie kann sie ihren Kund*innen nun durch diese Zeit helfen? Wie neutral kommunizieren, wenn die Stimmung selbst keine Neutralität mehr zulässt?
Wer führt den Dialog
Als Anna spätabends aus dem Büro kommt, denkt sie über den Tag nach. Der erste nach Anbruch eines neuen bundesdeutschen Kapitels. Die Angst ihrer Kund*innen. Die Frage, wo Deutschland morgen steht. Die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, weil sie helfen muss, den Ton für den Dialog vorzugeben – zwischen Unternehmen, Gesellschaft und einer zersplitterten Öffentlichkeit. Sie weiß ganz genau, dass dies erst der Anfang ist. Der Druck, differenziert, klug und vor allem umsichtig zu kommunizieren, ist jetzt größer als je zuvor.
„Es hätte nicht so weit kommen dürfen“, murmelt Anna leise vor sich hin, während sie zur U-Bahn läuft. Und sie hatte recht. Ein Wahlsieg der AfD mag für viele noch immer unrealistisch klingen, aber die Welt hat sich verändert. Wir alle haben Verantwortung, das zu verhindern, bevor es unsere Realität wird.
Vielleicht ist es das, was wichtig ist, denkt Anna, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschließt: Geschichten zu erzählen. Andere aufzurütteln, darüber nachzudenken, wie radikale Veränderungen selbst in stabilen Demokratien möglich sind – und was das für uns als Kommunikationsprofis, aber auch als Bürgerinnen und Bürger bedeutet.
Denn eines ist klar: Ein Wahlergebnis ist nicht nur ein politisches Ereignis. Es verändert die Art und Weise, wie wir reden, arbeiten und miteinander umgehen. Und wenn wir den Dialog nicht rechtzeitig führen, wird es andere geben, die ihn für uns führen.